Die (Medien-)Kultur formt das Gehirn. Müssen wir uns fürchten?

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Diagram of a social network / wikimedia commons

Noch immer liest und hört man den vor allem bei Skeptikern oder Gegnern beliebten Einwand gegen die sogenannten Neuen Medien, ihr Gebrauch würde unser Gehirn verändern. Schon der häufige Gebrauch des Daumens bei der Bedienung von Handys sei mit bildgebenden Verfahren als Vergrößerung bestimmter Hirnareale nachweisbar. Das hatte man ja schon immer gesagt: Die (Medien-)Kultur formt das Gehirn. Und schon scheint es bewiesen: der Computer macht dumm!

Müssen wir uns also wirklich fürchten?

Abgesehen davon, dass mit diesem „Argument“ der Unterschied zwischen Gehirn und Bewusstsein, also zwischen Physiologie und Psychologie übersehen wird, liegt seine eigentliche politische Stoßrichtung darin, einen quantitativen physiologischen Befund – die Veränderung/Vergrößerung von Hirnstrukturen – mit einer qualitativen psychologischen Einschätzung – eben Dummheit – in Verbindung zu bringen.

Die entscheidende Voraussetzung dieser voreiligen Schlussfolgerung: das menschliche Gehirn habe seinen Naturzustand im Verlauf der bisherigen menschlichen Kulturgeschichte nicht verändert, sondern sei sich immer gleich geblieben. Weil es aber bisher ohne den Gebrauch von – historischen – Symboltechniken gut ausgekommen sei, sei eben doch zu befürchten, dass die Überfremdung dieses Naturzustandes durch die Informationstechnologie nur schädliche Folgen haben könne, vor denen daher dringend gewarnt werden müsse.

Die meisten Wissenschaftler sind allerdings davon überzeugt, dass das menschliche Bewusstsein den eigentlichen Unterschied zwischen Tier und Mensch darstellt, und dass das menschliche Bewusstsein nur über die Verwendung von kulturellen Symboltechniken definiert werden kann. Die aber sind nun einmal historisch und kulturell verschieden. Die spannende Frage ist daher natürlich, ob der Gebrauch historisch und kulturell verschiedener Symboltechniken auch zu Veränderungen des Gehirns führt oder diese sogar zur Voraussetzung hat. Wenn aber diese Frage bejaht wird, dann muss auch für die der Informationstechnologie vorausgehende Symboltechnik der Schriftlichkeit, auf deren historischen background sich die gesamte europäische Kultur entwickelt hat, eine prägende oder formende Wirkung auf das Gehirn nachgewiesen werden können, die das „Schriftgehirn“ vom Gehirn der schriftlosen Kulturen unterscheidet.

Unter anderem zu dieser Frage hat einer der führenden Kognitionswissenschaftler, der kanadische Psychologe Merlin Donald, in einem umfangreichen Buch den Stand der Forschung zusammengetragen,[1] das immerhin schon fünf Jahre in deutscher Übersetzung vorliegt. Er schreibt:

„Erwerb und Gebrauch der Schrift[2] greifen tief in die funktionale Ordnung des Gehirns und in den Ablauf kognitiver Prozesse von Individuen und Gruppen ein. Die Verbreitung der Schrift hat … große mentale Umstrukturierungen in Gang gesetzt, die sich im Einzelnen und in der Gruppe abspielen. Um sich die Schrift zu eigen zu machen, muss der Einzelne eine Vielzahl von kognitiven Domänen[3] in sich aufbauen, die im Gehirn von schriftlosen oder nicht alphabetisierten Menschen nicht existieren. Dazu ist eine massive Umstrukturierung notwendig, die bestimmten Schaltkreisen des Gehirns neue Funktionen zuordnet und die funktionale Architektur des Denkens neu verschaltet. Menschen, die mehrere Sprachen beherrschen, haben Hunderttausende von lexikalischen Elementen in ihrem Repertoire, die mit unterschiedlichen Grammatiken verknüpft sind. Diese Fertigkeiten belegen einen riesigen Anteil der neuronalen Ressourcen und verändern die Arbeitsweise des Gehirns. Die für den Schriftgebrauch zuständigen Domänen sind in großen neuronalen Netzwerken verankert, die man zusammengenommen als >Gehirn der Schriftlichkeit< oder kurz >Schriftgehirn< bezeichnen könnte. Das Schriftgehirn ist eine kulturelle Hinzufügung zum vorschriftlichen Zustand des Gehirns. Es greift tief in die Operationsmodi des Bewusstseins ein und beeinflusst das relative Größenwachstum und die Dichte der Synapsen in bestimmten Regionen und Funktionsgefügen des Gehirns.“ (S. 292)

„Schriftlose Kulturen sind außerstande, die Begrenzungen des Arbeitsgedächtnisses zu überwinden. Das Denken hat einen vergleichsweise winzigen Spielraum. Da schriftlose Kulturen ohne externe Symbole auskommen müssen, besitzen sie nur zwei Instrumente, mit denen sie ein kulturelles Gedächtnis aufbauen können: Narration und Mimesis. Sie bewahren Vorstellungen, die für sie wichtig sind, in Form von Gleichnissen und Allegorien auf.“ (294)

Damit betont Donald allerdings lediglich, dass die schriftlosen Kulturen ohne externe Symbole auskommen, nicht aber, dass sie keinerlei Symboltechniken benutzen. An der Tatsache, dass auch das Gehirn in schriftlosen Kulturen durch den Gebrauch von Symboltechniken geformt wird, ändert dies also nichts. Also hat auch die auf der Verwendung von Sprache beruhende „Mündlichkeitskultur“ ihr ganz spezifisch kulturell geprägtes Gehirn. Wenn das aber für die Symboltechniken des Vor-Computerzeitalters gilt, dann auch für die Symboltechnik des Informationszeitalters. Oder in den Worten von Donald:

„Wir dürfen die Definition der Symboltechniken keinesfalls auf die Schrift einengen, denn die symbolischen Errungenschaften der Menschheit sind ungeheuer vielgestaltig. Sie haben uns mehr als einmal befähigt, mit Traditionen zu brechen und zu denken, was vormals undenkbar war.“ (296)

Trotzdem bleibt doch das Misstrauen: Warum haben denn dann so viele Menschen Probleme mit der Verwendung von Computern? Und warum wird durch den Computergebrauch so viel Missbrauch provoziert?

Grundsätzlich ist Donald überzeugt:

„Externe Symbole tragen dazu bei, dass die Kultur erheblich selbstreflexiver wird, und wirken außerdem auf die Gestalt des individuellen Bewusstsein zurück, Das subjektive Erleben wird zum Objekt des eigenen gezielten und bewussten Planens.“(302)

Aber:

„Die Entdeckung des in externen Symbolen angelegten kognitiven Potenzials ließ lange auf sich warten, weil sie massive gesellschaftliche Veränderungen voraussetzte.“ (295) „Um Symboltechniken effektiv nutzen zu können, benötigt eine Gesellschaft die entsprechenden Instrumente und muss außerdem eingespielte Verfahrensweisen entwickeln. Die Symbolwerkzeuge allein [die bloße Existenz von Computern] reichen nicht aus, um eine kognitive Revolution ins Werk zu setzen.“ (295)

Hinzu kommt:

„Ein solch intimes Wechselspiel mit dem Symbolwerkzeug verändert den Geist, der sich seiner bedient. Der verändernde Einfluss zielt dabei aber in beide Richtungen, wirkt also sowohl vom Symbol auf den Denker, als auch vom Denker auf das Symbol. Dieser wechselseitige Prozess, dessen Ende offen ist, kann sich über viele Generationen hinweg fortsetzen …“. (296)

Daher:

„Ehe die Möglichkeiten einer Symboltechnik ausgeschöpft und insbesondere in ihren kollektiven Aspekten genutzt werden können, müssen sich soziale Veränderungen vollziehen. Sowohl die Individuen als auch das Kollektiv müssen sich, ehe sie die bestmöglichen Verwendungsweisen der Symboltechnik herausfinden können, zunächst zahllose, im Verborgenen ablaufende mentale Muster aneignen und sie in ein institutionelles Geflecht einbinden. (296)

Auf die Frage nach der praktischen Konsequenz des Internet für das Lernen gibt es daher nur eine einzige Antwort: „Noch mehr Internet!“ (T. und J. Haeusler via Lisa Rosa)


[1] Merlin Donald, Der Triumph des Bewusstseins. Die Evolution des menschlichen Geistes. [Original 2001]. Deutsche überarbeitete und genehmigte Übersetzung bei Klett-Cotta, Stuttgart 2008.

[2] Zur „Mündlichkeitskultur“ und ihrer spezifischen Gehirnform siehe S. 286.

[3] Im Original steht zwar „Dämonen“, aber der gesamte Kontext wie auch der Gebrauch des Terminus „Domäne“ im gesamten Buch machen klar, das dies ein Druckfehler der deutschen Übersetzung ist.

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